Blicke, die töten können. Eine Anekdote zu Henri Michaux

Nachtrag zu vorgestern, als es um Christopher Isherwood und Henri Michaux in Südamerika ging (die beiden sind keineswegs zusammen gereist).

 

Als ich in Köln lebte, spazierte ich des öfteren in Konzerte mit Neuer Musik. Einmal, es war im Kleinen Sendesaal des Westdeutschen Rundfunks im Funkhaus am Wallrafplatz, wurden vier Werke von Giacinto Scelsi aufgeführt, der Musikwissenschaftler Heinz-Klaus Metzger hielt einen Vortrag über den Komponisten und Peter Lieck, der einigen vielleicht im Zusammenhang mit seiner Proust-Mammutlesung (zusammen mit Bernt Hahn) in der Lengfeld'schen Buchhandlung in Köln ein Begriff ist, trug Texte von Scelsi und Michaux vor.

 

Dem Programmheft zu diesem Konzert verdanke ich die Begegnung mit dieser eindrucksvollen Anekdote, die Scelsi erzählt hat:

 

Blicke, die töten können

 

"Ich habe hier in meinem Haus in Rom einige Abende mit Henri Michaux verbracht. Wir waren auf der Suche nach einer verrückten Treppe. Er sollte einen Text über das Bild einer Treppe schreiben. Er dachte, dafür sei am besten eine verrückte Treppe geeignet... Es gibt viele Treppen, die Wendungen nehmen, ohne daß man weiß, warum. Endlich habe ich eine gefunden, eine Barocktreppe, in einem Palast. Eine unglaubliche Treppe, die vier oder fünf Wendungen machte. Sie provozierte eine immense visuelle und geistige Irritation. Im Laufe des Abends hier hat Michaux eine junge Französin zum Weinen gebracht... sie war sehr charmant. Wir hatten zusammen zu Abend gegessen und dabei hatte sie alles zum Besten gegeben, was sie über Literatur wußte... Das ärgerte Michaux ungeheuer: vor einem solchen Mann prahlt man nicht ungestraft mit seiner Bildung... Besser sollte man schweigen... Und ihn ansehen. Er hatte sehr faszinierende und gefährliche Augen...

Er vermittelte den Eindruck, er könnte einem die Kehle durchschneiden, wenn man etwas Unnützes von sich gäbe. Nach dem Essen haben wir drei uns in Rom auf die Suche nach der verrückten Treppe gemacht. Schließlich hat sie auf der Treppe ohne Unterlaß weitergeredet. Und zwar so, daß Michaux sich sehr aufregte und sie zu weinen begann. Er hat das unglaublich kunstvoll gemacht. Sie hörte nicht mehr auf zu weinen... und ich mußte sie trösten, ohne daß Michaux es merkte. Diesen Mann vergißt man nicht... Alles zerbricht, alles vergeht. Aber nur wenige Menschen seines Schlages können ersetzt werden."

 

Giacinto Scelsi (im Gespräch mit Marie-Cécile Mazzoni, Franck Mallet und Marc Texier, 1987), zitiert nach: Der magische Klang. Begegnungen mit Giacinto Scelsi. [Programmheft zu sechs Konzerten in der Reihe "Musik der Zeit".] Westdeutscher Rundfunk Köln, 1996.

 

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