Ein bitterlustiges Büchlein zu Sprache und Kultur der Wenden: das "Encheiridion Vandalicum" von Jürgen Buchmann

 

„Denn wer nicht mehr träumt […], der wird auch nichts mehr verändern.“

 

 

Die Umschlagillustration von Sabrina Hansmann zeigt einen Schaufelradbagger vor Dorfkulisse. Damit ist schon das ganze Dilemma der sorbischen Minderheit in Sachsen erklärt: Ihre Sprache verliert an Boden.

 

Warum er denn Wendisch lernen wolle, wird Jürgen Buchmann, langjähriger Dozent für Philosophie und alte Sprachen an der Universität Bielefeld, gefragt, das spreche doch kaum mehr einer. „Deswegen“, entgegnet er frohgemut, „da ist es schon einer mehr.“ Sicher, die Zerstörung von ca. hundertdreißig sorbischen Dörfern kann ein Einzelner, und sei es ein engagierter Schriftsteller, kaum verhindern – doch Einspruch zu erheben steht in seiner Macht, und so ist Buchmanns wendisches Opusculum ein witzig-sarkastischer Protest gegen das skrupellose, giergetriebene Planieren einer jahrhundertealten Kultur im Namen der Unkultur.

„Jahrhundertealt“ lässt sich präzisieren: „So an die anderthalb tausend Jahre […] leben wir nun in der Łužyca[.]“ – in der Lausitz –, erläutert Hanzo, Buchmanns (fiktiver?) wendischer Freund, der als eine Art Cicerone durch die verblühende, untergepflügte (Sprach-)Landschaft führt und den ungleichen Kampf zwischen Kultur und Geld kommentiert.

 

Encheiridion Vandalicum, zu Deutsch: Handbüchlein von den Wenden, so der griechisch-lateinische Titel, den Buchmann seiner Textsammlung gegeben hat, ein gleichlautendes Werk des niedersorbischen Barocks aus dem Jahr 1610 zitierend.

 

Da das dem Polnischen nahestehende Niedersorbisch, das in und um Cottbus (Chóśebuz) gesprochen wird, mehr noch als das dem Tschechischen verwandte Obersorbisch (um Bautzen/Budyšin), vom Aussterben bedroht ist, richtet Buchmann in allen Texten sein Augenmerk allein auf Sprache und Kultur der Niedersorben.

 

Das Encheiridion ist in zwei Teile gegliedert. Der erste – „Von Wenden und Deutschen“ – versammelt vierzehn Satiren, die Buchmann für den Nowy Casnik geschrieben hat, die letzte noch existierende Zeitung in niedersorbischer Sprache. Der zweite – „Kleine wendische Bibliothek“ – umfasst, nach dem Vorbild und in Weiterentwicklung von Jorge Luis Borges, sechs fiktive Buchbesprechungen.

Die Satiren sind meist zwei, zuweilen drei Seiten lang und warten mit bitteren Pointen auf.

Betreibe die Politik einerseits Sabotage an der wendischen Sprache und Kultur, befördere sie andererseits deren Musealisierung, stellt der Autor kritisch fest: „[H]at man ihm [dem Wenden] früher gezeigt, was eine Harke ist, so kriegt er jetzt einen Besen, damit er seine Museen fegen kann.“

An anderer Stelle zitiert er die Meinung eines (von ihm erfundenen) Essayisten, „die Zeit sei Traditionen und Identitäten nicht günstig. Sie gestatte sie allenfalls als Folkloreveranstaltung, als Inszenierung, als Maskerade."

 

Kontrastierend zu dieser betrüblichen Einschätzung bringt ein Epigraph den erhaben und hohl tönenden Wortlaut einer helmutkohlschen Regierungserklärung, doch die abgekühlte Sprache des nachfolgenden Textes straft die blumigen Parolen Lügen.

„Menschen kann sich im Grunde heute niemand mehr leisten“, heißt es da in dem grundvernünftigen Duktus, in dem die großen Absurditäten am besten ausgesprochen werden, auf dass niemand schreien möge. (Später, in der Rezension zur Erzählung „Zwei Wenden im Paradies“, wird die Beteuerung des Erzählers wiedergegeben, die „Versprechungen deutscher Politiker an die Adresse des sorbischen Volkes“ seien besser als heiße Luft geeignet, Luftballons Auftrieb zu geben und hätten als Treibstoff überdies den Vorteil, dass sie sich „ohne Rückstand in Luft“ auflösten.)

Die Satiren wählen ganz unterschiedliche Ansätze, um sich dem wendischen Komplex zu nähern. Mal verteidigen sie das Wendische gewitzt gegen die allgegenwärtige Gefahr der Nivellierung und Annihilierung, mal stimmen sie seinen Schwanengesang an, mal künden sie von seinem (tatsächlichen oder erhofften) Wiederaufleben – und manchmal alles drei zusammen.

 

Eine Glosse zum slawischen, also auch wendischen, Zungenspitzen-r, das unter dem Druck der Mehrheitssprache Deutsch längst durch das Zäpfchen-r ersetzt wurde, mündet in das schöne stolze Bekenntnis: „Unsere Sprache ist eine Sprache der Hoffnung. Sie war niemals die Sprache der Macht; wer sie spricht, tut es aus Liebe."

 

Ein anderer Text, „Der wendische Weg“, führt das Beispiel der Waliser an, deren Sprache in den 50er Jahren im Sterben lag und heute wieder von einer halben Million Menschen gesprochen wird. Vielleicht ein Modell auch für die Sprache der Wenden?

 

Dann wiederum wird die deutsche Lust an eingeredeten Krankheiten aufs Korn genommen. Vogelgrippe, Schweinegrippe… da geht noch was! Und so hört man bald vom „Hamstererreger“ und von der „Kabeljaugrippe“ – neue frohe Hiobsbotschaften für die Schar der scheinbar Kranken, clever versüßt mit Oma Minas Stachelbeer-Marmelade. Eine hervorragende Geschäftsidee aus dem Wenden-Land das; nicht von ungefähr heißt es, jemand sei „ein wendiger Kopf“…

 

„Der große wendische Kongress“ bringt die Gründung einer „Nationalen Vertagungskommission“ mit sich, die auf den Namen „Schlummernde Heimat“ getauft wird. Deren Aufgabe ist es, alle dringenden Probleme, die für die Wenden von Belang sind, zu sammeln und zu archivieren. Jeden Monat wird jede einzelne Akte einmal umgedreht, wie ein Stück Fleisch auf einem kalten Grill. Man weiß nicht, ob man lachen oder weinen soll, aber dann abrakadabrat Buchmann mittels einer schönen Volte ein Freudenblitzen in des Lesers tränendes Auge, und alles wird gut.

Man nennt diesen das Tragische aufnehmenden und aufhebenden Witz Humor. („Auf dem Grund des Lächelns schwimmt eine Träne“, so hat es Charlie Chaplin formuliert, und Heinrich Böll, eine Generation jünger, ermahnte sich und seine Kollegen – 1952 war das, wenige Jahre nach dem Ende der schlimmsten Barbarei – ihr Auge solle menschlich sein, weder trocken noch naß, sondern feucht, und erinnerte bei dieser Gelegenheit an das lateinische Wort für Feuchtigkeit: „humor“.)

Vieles ließe sich noch sagen zu diesem Encheiridion Vandalicum, Vieles müsste noch erwähnt werden, gerade aus dem zweiten Teil, der „Kleinen wendischen Bibliothek“. Brillant die beiden Texte „Jaromir Kósac, Nawrośenje/Die Wiederkehr“ und „Jakub Mejstaŕ, Wó gódnośe a dostojnosći serbskeje rěcy/Von Wert und Würde der wendischen Sprache“.

 

Der erste handelt von einem Theaterstück, das als ein Spiel mit der Sprache und mit der Sprachlosigkeit präsentiert wird. Varietätenvielfalt (Schleifer Mundart, Cottbuser Wendisch, Obersorbisch, Deutsch) mündet in Verstummung, die in einer Abfolge nonverbaler Äußerungen ihren Ausdruck findet:

 

„Sie beginnen mit dem Schrei der Tochter, die die Heimgekehrte bewusstlos auf dem Bett findet; sie enden damit, dass der Schwiegersohn die Gardinen des Sterbezimmers beiseite zieht, das Fenster zum Garten öffnet und auf zwei Fingern einen gellenden Pfiff ausstößt, dessen Bedeutung offen bleibt und der das Drama mit einer Geste von obsessiver, lähmender Gemeinheit schließt. Dazwischen ertönt Räuspern, Husten, Gähnen, Trällern, Fingerschnipsen, Seufzen, das Rascheln von Zeitungen und Stühlerücken, gleichsam Geräusche am Rand einer Sprache, die nicht mehr zustande kommt.“

 

Der zweite ist bemerkenswert unter anderem wegen seiner luziden, schmerzhaft scharfen Kritik am Literaturbetrieb und an der in ihm gedeihenden Literatur – eine Schärfe, der man seit Adorno ganz entwöhnt ist.

 

Wenn der Rezensent von Jakub Mejstaŕs „Von Wert und Würde der wendischen Sprache“ die „literarische Ware“ des Markts unterscheidet von einer „raren und kostbaren Literatur“, die „[a]n den Rändern des medialen Lärms“ entstehe, dann darf und soll dies auch als Ermutigung für alle Schreibenden gelesen werden, an der eigenen nonkonformen literarischen Statur zu arbeiten und an ihr festzuhalten, und sich möglichst nicht mit einem literaturfeindlichen Markt gemein zu machen, für den der künstlerische Rang eines Werkes nichts und die Effektivität des Marketings alles ist. urmel

 

Jürgen Buchmann, Encheiridion Vandalicum oder Das Buch von den Wenden.   76 Seiten, Broschur. Reinecke & Voß, Leipzig 2012. 10,00 Euro

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