Georges Perec und Harry Mathews (2)

 

Harry Mathews und Georges Perec lernten sich 1970 kennen. Als Perec 1982 starb, widmete ihm der Freund einen wundervollen Nachruf, Mathews zitiert ihn in seiner Autobiographie (auf Deutsch im MaroVerlag) ausführlich im Kapitel "Freundschaften":

 

"Georges Perec trug so einen komischen Spitzbart, mit dem er aussah wie ein überkandidelter Wissenschaftler aus den Comics. Er hatte einen rauhen Teint und sein Gesicht war mit Warzen übersät. Als ich ihn kennenlernte, hielt er sich beim Sprechen immer eine Hand vor den Mund, um seine unansehnlichen Zähne zu verbergen. Borstige Haare wogten um seinen Kopf wie ein auseinanderfallendes Vogelnest. Oft benutzte ich Alkibiades' Worte über Sokrates, um ihn zu beschreiben: außen grotesk, innen das güldene Abbild eines Gottes."

 

Unter dem Titel Le Verger. Je me souviens de Georges Perec sind später Mathews' Erinnerungen an Perec erschienen (auf Französisch 1984, auf Englisch 1987).

Sie greifen ein Prinzip auf, das Perec selbst 1978 inauguriert hatte, nämlich fast völlig verblasste Erinnerungen an Banalitäten, die entweder allen gemeinsam oder wenigstens vielen vertraut sein sollten, schriftlich wiederaufzurufen. Ausgehend von dieser Idee, notiert Mathews seine Erinnerungssplitter, immer beginnend mit "Je me souviens".

 

Leseprobe (Französisch)

 

Die deutsche Ausgabe kam 1991 in der Berliner edition plasma heraus.

(Ich habe von der edition plasma leider keine Website noch sonstige Kontaktdaten gefunden, daher hier keine Coverabbildungen der erwähnten Titel; wer mit Informationen weiterhelfen kann, möge sich bitte bei mir melden: reul@satt.org).

 

Im selben Jahr 1991 publizierte die edition plasma auch eine Gemeinschaftsarbeit von Perec und Mathews, Roussel und Venedig (1977) - Raymond Roussel, der wohl für beide Schriftsteller bedeutsam war.

In seiner Autobiographie schreibt Mathews:

"Die Lektüre Roussels öffnete mir die Augen in mehrerer Hinsicht. Er zeigte mir, daß die Psychologie eine entbehrliche Mode war, daß die moralische Verantwortung des Schreibens sich nicht auf die Ehrfurcht vor dem erzählerischen Stoff erstreckte und daß Prosa genauso exakt aufgebaut werden kann wie Sir Philip Sidneys doppelte Sestinen."

 

  • Harry Mathews, Autobiographie. Herausgegeben von Armin Abmeier. Aus dem Englischen (USA) von Michael Mundhenk. 148 Seiten mit 17 Fotos, Broschur. MaroVerlag, Augsburg 1995. 14,00 Euro (Reihe Die Tollen Bücher, Bd. 5)
  • Harry Mathews, Der Obstgarten. Erinnerungen an Georges Perec. Herausgegeben von Jürgen Ritte. Aus dem Französischen von Uli Becker.  44 Seiten, Broschur. edition plasma, Berlin 1991. 10,00 Euro (Reihe Oulipo & Co.)
  • Harry Mathews/Georges Perec, Roussel und Venedig. Entwurf zu einer melancholischen Geographie. Herausgegeben von Jürgen Ritte. Aus dem Französischen von Hanns Grössel. 48 Seiten, Broschur. edition plasma, Berlin 1991. 12,50 Euro (Reihe Oulipo & Co.)

 

Dee Weedergenger

 

Drei Jahre nach Anton Voyls Fortgang hat Perec dem darin verschmähten E den roten Teppich ausgerollt im Roman Les Revenentes, den der Münsteraner Verlag Helmut Lang 2003 als deutsche Erstausgabe unter dem Titel Dee Weedergenger herausgebracht hat (Übersetzer Peter Ronge). In einem überraschend (nicht unsympathisch!) exklamatorischen Stil heißt es auf der Verlagswebsite:

 

"Eine Passion Perecs war die Beschäftigung mit lipogrammatischen Werken, ein literarisches Genre, das wir seit der Antike kennen: Just durch Auslassen bzw. Vermeiden von bestimmten Lettern wird eine sprachliche Erweiterung und Bereicherung gesucht und gefunden! Perecs zweites geradezu artistisches Werk dieses Genres freuen wir uns nun in deutscher Sprache vorzustellen: Dee Weedergenger (Les Revenentes), ein monovokalischer Roman, der ausschließlich den vokalischen Buchstaben e und seltener den Halbvokal y zuläßt!

Der Titel des Romans spielt doppelt an, zum einen auf Perecs ersten lipogrammatischen Roman La Disparition ("Das Verschwinden", in der Übersetzung von Eugen Helmlé Anton Voyls Fortgang), worin nur die Vokalzeichen a, i, o und u auftauchen, der Vokal e indes gänzlich fehlt. In Dee Weedergenger kehrt dieser nun im Triumph wieder und verdrängt alle restlichen Vokale! Zum andern auf die Helden französischer Klassiker, nämlich de Sades Juliette und die Trois Mousquetaires von Dumas, die ebenfalls wiederkehren und ein unerwartetes modernes Nachleben führen.

Die Doppelhandlung seines Romans, Vorbereitung und Ausführung eines Juwelenraubs und einer Sexorgie, situiert Perec im übrigen ausgerechnet am Sitz und um die Person des anglikanischen Bischofs von Exeter, weswegen sich die Leser gar noch wie Komplizen des Autors in die schleichende Anglisierung von Sprache und Schreibart des Erzählten fügen."

(Text: Verlag Helmut Lang)

 

  • Georges Perec, Dee Weedergenger. Roman. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Peter Ronge. 144 Seiten, Englische Broschur, Fadenheftung. Verlag Helmut Lang, Münster 2003. 16,50 Euro

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