Katja Huber bei P. Kirchheim und Secession

 

"Der Ruhm eines Dichters hängt letztlich von der Erregung oder Apathie der Generationen namenloser Menschen ab, die ihn in der Einsamkeit ihrer Bibliotheken einer Prüfung unterziehen", schreibt Jorge Luis Borges in seinem Essay "Über die Klassiker" (nachzulesen in Inquisitionen. Essays 1941-1952).

 

Ich habe die Stelle gerade nachgeschlagen, weil ich mir Gedanken über die Aktualität von Büchern machte. Der Buchmarkt legt uns nahe, diese an ihrem Erscheinungsjahr, wenn nicht gar -monat festzumachen. Aber das wäre verrückt, weil es ein Tempo vorgibt, das kein Mensch durchhalten kann, und auf das ich mich gar nicht erst einlassen möchte - es ist das Tempo des Kapitalismus: der Literatur und ihrer Liebhaber unwürdig.

Also schlage ich vor, das jeweilige Buch aktuell zu nennen, das gerade auf irgendeinem anonymen Bett zum Lesen bereit liegt. Ob es zufällig frisch erschienen ist und in Literatur(betriebs)kreisen beredet und beschrieben wird oder nicht - einerlei!

Der Rezipient darf störrisch sein, er darf, wenn auch alles nach vorne rennt, stehenbleiben, sogar kehrtmachen, wenn ihm die nächste Kurve nicht gefällt, mindestens zurückschauen, denn es ist da immer noch viel grünes Gras.

 

Fernwärme hieß das Buch auf meinem Bett. So hat Katja Huber ihren ersten Roman betitelt, der 2005 im P. Kirchheim Verlag erschienen ist. Huber erzählt darin mit Witz (auch Dialogwitz) und Sinn für Spannung eine in Deutschland und Russland spielende, politisch und literarisch grundierte Familiengeschichte, die drei Generationen umfasst. Aufgeschrieben wird sie von Anna, einer 32jährigen Slawistikstudentin aus München. Mit Unterstützung eines jungen Russen, Igor, der eines Tages - nicht ganz zufällig - an ihrer Tür klingelt, begibt sich Anna auf eine Reise in die Vergangenheit und findet dort (so ist es bei Vergangenheitsreisen) eine Erhellung und Klärung der Gegenwart und des eigenen Lebens.

So erfährt sie z. B. von der Beteiligung ihres Großvaters Ludwig Speyer an der Gründung des Verlags Volk und Welt (1947) - und bekommt von Igor, der dort als Praktikant anheuert, das traurige Ende dieses einst wichtigsten Verlags für internationale Literatur der DDR berichtet: 

"Vor vielen Jahren [...] hatte der Verlag tatsächlich über hundert Mitarbeiter gehabt, brachte im Jahr über hundertfünfzig Titel heraus. Nach 1989 waren es nur noch zwanzig, und die letzten drei Jahre waren vier Titel schon ein guter Schnitt gewesen."

 

Reise nach Njetowa

 

Auch Hubers zweiter Roman, Reise nach Njetowa, erzählt eine deutsch-russische Geschichte.

 

"Tanja fliegt nach St. Petersburg, um einen ungewöhnlichen Reiseführer zu schreiben. Ungewöhnlich, weil sie den Inhalt erfindet. Sie weiß noch nicht, daß ihr ein wesentlich älterer Mann folgt.

Sie verlieben sich ineinander. Eine unglückliche Affäre, die mit Gedächtnisverlust, Verdrängung und Geschlechtsverwirrungen fortschreitet – wie immer bei Katja Huber in schnellem, lockerem Ton. [...]

 

Die Darstellung der Hauptpersonen und Handlungsstränge bedient sich einer ganzen Reihe von literarischen Formen und Verfahren wie der Rückblende, des Traums, der Erinnerung, des inneren Monologs, der Projektion, des Filmschnitts, der Theaterdramaturgie u. a. und bildet so die komplexen Vorgänge auf allen Textebenen ab." (Verlagstext)

 

2006 las Katja Huber bei den 30. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt aus ihrem Manuskript "Reise nach Njetowa" und musste sich von der Jury allerlei negative Urteile anhören ("unsinnliche Sprache", "Kolportage", "Folklore").
Unter dem Titel "Lost Weekend: Auf der Suche nach dem guten Gefühl" hat sie über ihre Erfahrungen am Wörthersee geschrieben.
Der Text wurde zuerst im Radio gesendet (Bayerischer Rundfunk, 29.6.2006) und ist auf der Verlagswebsite nachzulesen. (Logo anklicken, dann weiter zum Button "Belletristik" -> Katja Huber, Reise nach Njetowa -> Pressestimmen.)
"Lost Weekend" gibt einen guten Eindruck von dem alljährlichen Klagenfurt-Irrsinn, der so schwer zu ertragen ist.

 

Glücklicherweise hat sich die Autorin nicht entmutigen lassen und hat weitergeschrieben. Dies Jahr ist im Züricher Secession Verlag ihr dritter Roman, Coney Island, erschienen.

 

Coney Island

 

"Wenn zwei Papageien sich in die Lüfte schwingen, von da nach dort flattern, hier und dort ein wenig schauen, dem bunten Treiben unter sich zusehen, dann das Strandleben, die Bars, die Strasse ins Visier nehmen, kurz, das Leben auf Erden beobachten, sich dann niederlassen, die Federn ordnen, sich anblicken, vielleicht ganz kurz den Kopf schütteln und dann zu erzählen beginnen – wie würde das klingen?

 

Anders gefragt: was, wenn ein angesehener Theoretiker und Arzt, Experte für Borderline-Forschung und altersbedingt dort angelangt, wo man Weisheit erwartet, von einem Kongress in Deutschland zurück nach New York fliegt und nicht wie vereinbart von seiner Sekretärin abgeholt, sondern von einem jungen Mann entführt wird: und daran sogar gefallen findet?

Wieso, muss sofort weitergefragt werden, wird er nach Coney Island verschleppt, wo er mit seiner Frau Marta die Flitterwochen verbrachte, damals, obgleich sie nach Paris hätten reisen können? Und wie viele Bälle muss der junge Mann, der Entführer des Verführten, jonglieren, um sein Ziel zu erreichen: Welcher Wahnsinn hat ihn gepackt, so naiv ins Leben eines Analytikers einzugreifen, um seinem eigenen eine entscheidende Wendung zu geben?

Und was treibt die Nebenfiguren um, die diesen Roman mit seinen geschickt vernetzten Geschichten zu einer rasanten Achterbahnfahrt werden lassen auf und über und mitten durch den wohl berühmtesten Vergnügungspark der Weltgeschichte?

 

Steigen Sie ein, herzlich Willkommen in Coney Island – und wundern Sie sich bitte nicht, wenn Ihnen auf ganz unerwartete Weise nicht nur Woody Allen begegnet!" (Verlagstext)

  • Fernwärme. Roman. 148 Seiten, Englische Broschur. P. Kirchheim Verlag, München 2005. 15,00 Euro
  • Reise nach Njetowa. Roman. 192 Seiten, Englische Broschur.

    P. Kirchheim Verlag, München 2007. 19,90 Euro 

  • Coney Island. Roman. 232 Seiten, gebunden ohne Schutzumschlag. Secession Verlag, Zürich 2012. 21,95 Euro

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